Kunst der Gegenwart
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Einleitung | Über das Projekt
Melissa Lumbroso
Florentina Pakosta führt ihre Analyse von Mimik und Gestik in monumentalen Zeichnungen in Kreuzstrichtechnik fort, die formal an druckgrafische Techniken erinnern. Glatzköpfe blicken frontal aus dem Bild entgegen, Gesichter verzerren sich zu den unterschiedlichsten Grimassen. In den „Zeitgenossen“ erforscht Pakosta in überlebensgroßen Porträts von Männern, die die Kunstwelt und damit auch die Welt der Künstlerin maßgeblich prägen, eine spezifische Physiognomie männlicher Macht. Ihre Beobachtungen über die Diskriminierung und Ungleichstellung der Frau in der Gesellschaft finden Ausdruck auch in Motiven wie der Faust, der Nadelklitoris, oder einer Antwort auf den Stuhl von Allen Jones mit denen Pakosta feministische Ikonen des Widerstands schafft. [5] Die Künstlerin entwickelt weitere Techniken, wie die Schablonen- und Sprühtechnik, die zum Beispiel in den Montagebildern zum Einsatz kommen. In diesen satirischen Blättern schreibt Pakosta den Gesichtern symbolische Gegenstände ein und findet so eine Ausdrucksform, um pointierte gesellschaftskritische Aussagen zu treffen. Kunst wird für Pakosta „zu einem Instrument in ihrem Emanzipationsprozess, in dem es um die Befreiung von gesellschaftlichen Normen und Moralvorstellungen geht.“ [6]
Neben der Genderungleichheit ist ein weiteres Thema für das Verständnis von Pakostas Werk zentral: der Krieg. Diese Bedrohung prägt die Künstlerin bereits in ihrer Kindheit. Als 11-jähriges Mädchen sitzt sie mit ihrer Mutter — alle Männer waren eingerückt — verängstigt in ihrem Keller in Stadlau, um den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs zu entkommen; durch die Fenster beobachtet sie, wie das Licht der Flak den Himmel durchstreift; sie hört das Dröhnen der Kriegsmaschinen immer näher kommen. [7] Die Erlebnisse und die Traumata des Krieges bilden den Nährboden für eine Reihe von narrativen Kohlezeichnungen z.B. die Heimkehr der Söhne. Bildnisse von Soldaten, Menschen bei Zivilschutzübungen oder Stilllebenkompositionen mit Anhäufungen von Gasmasken beschäftigen sich mit Motiven des Schreckens und der Gewalt. Die unheimliche Macht der Männer, diesmal uniformiert in Anzügen, ist später das Hauptmotiv der „Menschenmassen“.
Um 1989, vor dem Hintergrund der politischen Umwälzungen, wendet sich Florentina Pakosta verstärkt der Malerei zu. Die Formen werden nach und nach reduziert, die Farbe kehrt in ihr Werk zurück und es entstehen abstrakt-geometrische Gemälde. Diese Trikoloren Bilder verweisen formal mit durchdringenden Balken wie eingestürzten Gebäuden oder Trümmern, aber auch mit ihren Titeln auf Kriegsereignisse (z.B. 1991/1. Golfkrieg/Kuweit oder Luftschläge (Kämpfe in der Ukraine I)). Diese neuen Bilder unterscheiden sich in Komposition, Farbigkeit und Technik so sehr von Pakostas bisherigen Arbeiten, dass man sie einer anderen Künstlerin zuschreiben möchte. Ihr eigenwilliges und abwechslungsreiches Werk macht eine eindeutige Zuordnung schwierig. Gerade als sie sich mit einem unverwechselbaren Stil aus der finanziellen Unsicherheit befreit und künstlerisch einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat, tauscht Pakosta den Bleistift gegen den Pinsel, die Figuration gegen die Abstraktion. [8] Sie geht ihren Weg, wie Otto Breicha die Künstlerin einmal beschrieb, „inständig und unbeirrt“. [9] Sie malt kompromisslos, denn sie entdeckt die abstrakt-geometrische Malerei als einzig adäquates Mittel, die Gesellschaft zu kommentieren. Für ihr Lebenswerk erhält Florentina Pakosta kurz vor ihrem 90. Geburtstag den längst überfälligen Österreichischen Kunstpreis. [10]
Das Werkverzeichnis
Das bedeutende Œuvre Pakostas ist nun nicht nur durch die Sammlungsbestände von über 80 Werke [11] und regelmäßigen Ausstellungen in der Albertina präsent. [12] Als Online-Nachschlagewerk bietet dieses Verzeichnis einen Überblick über das gesamte Schaffen von Florentina Pakosta. Erfasst sind rund 3.000 Zeichnungen, Druckgrafiken und Gemälde aus über 70 Jahren produktiver künstlerischer Tätigkeit.
Die Datenbank trägt die Handschrift von 3 Kunsthistoriker:innen. Regina Doppelbauer, langjährige Mitarbeiterin und Sammlungsleiterin der Albertina, betreute das Projekt zu Beginn. Gemeinsam mit dem beauftragten Kunsthistoriker Hartwig Knack wurden die Werke systematisch erfasst; Werkdaten und hochauflösende digitale Bilder wurden in eine Datenbank eingespeist. Jedes Werk erhielt in der Reihenfolge seiner Bearbeitung eine fortlaufende „Pakosta-Nummer“ zugewiesen. Diese steht in keinem Zusammenhang mit der Chronologie der Werke oder einem anderen Ordnungskriterium. Sie dient lediglich der eindeutigen Identifizierung der Objekte. Die Werktitel und Datierungen stammen in den meisten Fällen von der Künstlerin selbst. Sie beziehen sich auch auf handschriftliche Bezeichnungen, die die Künstlerin auf den Objekten vermerkt hat, bzw. wurden aus Ausstellungskatalogen übernommen. [13]
Das Projekt zielt nicht auf lückenlose Vollständigkeit ab. Vielmehr geht es darum, ein präzises Bild der künstlerischen Entwicklung Pakostas zu zeichnen und ihr Werk in seiner Heterogenität abzubilden. So sind Beispiele aller von Pakosta erprobten Techniken und Stile vertreten. [14] Zahlreiche Skizzen und Vorzeichnungen veranschaulichen Pakostas Formfindung, etwa die Vorzeichnungen für die Trikoloren Bilder. Seit der Projektübernahme im Herbst 2020 erarbeitet Melissa Lumbroso gemeinsam mit der Künstlerin eine Gliederung zum besseren Verständnis des vielschichtigen Werks. Obwohl dieses sich grundsätzlich einer Kategorisierung entzieht, kristallisieren sich einige relevante Themen heraus, die sich durch das gesamte Schaffen Pakostas ziehen.
Zur Gliederung
Alle Werke sind in eine nach sinnfälligen Gruppen und Verwandtschaften strukturierte Ordnung gebracht. Zeichnung, Malerei und Druckgrafik stehen gleichberechtigt nebeneinander. Die Anordnung der Werke innerhalb der Themen folgt der Logik von Serien bzw. motivischen Ähnlichkeiten. Die Chronologie spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Das Ergebnis sind 9 Kapitel, die jeweils mit einem kurzen einführenden Text versehen sind. Auch wenn die Themen und Anliegen der Künstlerin konsequent bleiben, spricht man im Œuvre von Florentina Pakosta von einem Erst- und einem Zweitwerk. Zum sogenannten Erstwerk gehören die gegenständlichen Arbeiten bis ca. 1988; in einer stilistischen Zäsur, die sich mit der Hinwendung zur Malerei und mit der Verwendung einer Schablonentechnik bei den „Menschenmassen“ und den „Warenlandschaften“ anklingt, kommt es zu einer vollkommenen Reduktion der Formen, zu einem weiterführenden Verzicht auf den gestischen oder subjektiven Strich sowie zur Einführung der Farbe in den abstrakt-geometrischen Trikoloren Gemälden des Zweitwerks.
Das 1) Frühwerk ist mit rund 750 Blättern und Leinwänden das zahlenmäßig umfangreichste Kapitel und reicht von Pakostas Jugendzeit mit ersten Arbeiten um 1948 bis zu ein paar Jahren nach Abschluss ihres Kunststudiums und einem Aufenthalt in Paris um 1964. Die ersten Jahre des künstlerischen Werdegangs von Florentina Pakosta sind gekennzeichnet von einigen formalen „Ausflügen“ [15] (z.B. in den Kubismus oder das Informel) und von einem Experimentieren in verschiedenen Genres auf der Suche nach ihrem eigenen Vokabular. Von den Werken der späten 1940er Jahre bis in die 2010er Jahre begleiten ihre 2) Selbstbildnisse alle weiteren thematischen und motivischen Auseinandersetzungen. [16] Ab 1968 entsteht eine stilistisch eigenständige Gruppe von Zeichnungen, die sich zunächst formal mit dem Werk des französischen Expressionisten Georges Henri Rouault auseinandersetzt. Inhaltlich widmet sich Florentina Pakosta in diesen 3) narrativen Blättern vorwiegend Themen wie dem Krieg und Gender-Verhältnissen, beispielsweise in Arbeiten wie Kriegserinnerungen oder Rotkäppchen.
Die große Gruppe 4) Mimik und Gestik beinhaltet Pakostas Auseinandersetzung mit der menschlichen Physiognomie als Ausdruck gesellschaftlicher Verhaltensweisen und Rollenzwänge: monumentale Freihandzeichnungen kahlköpfiger Gesichtsbildungen bzw. zu Fäusten geballter oder mit gespreizten Fingern dargestellter Hände. Unter weitgehendem Verzicht auf eine subjektive Handschrift tastet Pakosta mit einem feingliedrigen, strengen Netz aus Strichen und Rastern verschiedene Ausdrücke ab.
Die Gesichtsausdrücke ihres bekannten Radierungszyklus zu den Charakterköpfen von Franz Xaver Messerschmidt der Rubrik „Mimik und Gestik“ erfahren in den „Schnabelköpfen“ mit zugespitzten Mundpartien eine Übersteigerung. Diese und eine Reihe von weiterer, zum Teil karikaturenhaften 5) Montagebilder entstehen: Die Schnäbel werden durch eine Schere, eine Säge, eine Kurbel oder eine Gießkannenbrause ersetzt, die aus dem Mund wachsen. Aus der Stirn sprießt eine weitere Maschine, ein Symbol der Aggression schlechthin, heraus: der Revolver. Für diese verwendet sie unter anderem Schablonen- und Sprühtechniken. In den monumentalen Porträts von 6) Zeitgenossen entspricht die Form dem Inhalt: in einer möglichst sachlichen Bestandsaufnahme mittels der an druckgrafische Techniken erinnernden Kreuzstrichtechnik analysiert Pakosta die spezifische Physiognomie männlicher Macht.
Nicht nur der Mann allein, sondern der Mensch als Masse wird bei den 7) Menschenmassen thematisiert. Bereits in den 1960er-Jahren zeichnet Pakosta uniformierte Männer in kleinen Gruppen als Soldaten oder in Anzug und Krawatte. In den 1980er-Jahren in einer Fortsetzung der Beschäftigung mit dem entindividualisierten Ausdruck verwendet Pakosta für diese neuen Bilder von Menschenmassen passenderweise weiterhin auch Schablonentechnik. 8) Stillleben und Warenlandschaften bilden die letzte Gruppe des Erstwerks. Wie die „Menschenmassen“ haben auch die „Warenlandschaften“ die Gleichschaltung des Menschen, den Konsumismus und die Warenflut zum Thema. Mit diesen Bildern wendet sich Pakosta zunehmend der Malerei zu. Sie zeigen eine neue Tendenz in ihrer Kunst: paradoxerweise entwickelt sich über eine sukzessive Abkehr von Gegenständlichkeit in der Darstellung von Gegenständlichem ein Hinwenden zur Abstraktion, worin sich auch die 9) Trikoloren des Zweitwerks ankündigen.
Ergänzende Anmerkungen
Diese Gliederung macht die künstlerische Entwicklung Pakostas und die Hauptthemen im Schaffen der Künstlerin nachvollziehbar. Die Benutzer:innen des digitalen Werkverzeichnisses sollen jedoch nicht ausschließlich daran gebunden sein. Mit Hilfe von Filtern, Sortierungen und Suchfunktionen kann eigenen Fragestellungen nachgegangen werden.
Die elektronische Form dieses Werkverzeichnisses ermöglicht einen dynamischen Charakter: Regelmäßige Aktualisierungen, die Berücksichtigung von Veränderungen und eventuelle Korrekturen sind leicht und zeitnahe durchführbar und machen das vorliegende Werkverzeichnis zu einem „living document“. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 2024 wird das sogenannte Zweitwerk vorgestellt, die seit zirka 1988 bis heute entstandenen abstrakt-geometrischen Trikoloren Bilder. Die weiteren Kapitel werden sukzessive online gestellt.
Eine Bibliografie bietet eine Zusammenstellung der wichtigsten Quellen zum Werk von Florentina Pakosta. Auf diese wird im Literatur-Feld mit Kurzbeleg bei den Objekten verwiesen, die in Publikationen dargestellt oder behandelt werden. Ein nicht unwesentlicher Aspekt von Pakostas Produktivität soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben: Ihre Schriften beinhalten Kurzgeschichten, Prosa, Aphorismen, die den Alltag, sowie Kunst und die künstlerische Praxis reflektieren. Diese Texte sind ebenfalls in der Bibliografie berücksichtigt. Eine illustrierte Biografie sowie ausgewählte Essays und ein Glossar, mit Pakostas „Rezepten“ und Anleitungen zu erprobten, vor allem druckgrafischen Techniken, runden das Verzeichnis ab. So bietet diese Online-Datenbank, in Ergänzung zu den bereits publizierten Forschungsergebnissen eine leicht handhabbare und verlässliche Orientierung im Werk Florentina Pakosta und eröffnet neue Perspektiven und Forschungsmöglichkeiten.
[1] Klaus Albrecht Schröder, Eröffnungsrede anlässlich der Ausstellung Florentina Pakosta. 90 Jahre Krieg in der artmark galerie, Wien am 22.9.2023.
[2] Siehe Borchhardt-Birbaumer 2007 und Florentina Pakosta, „Das Unangepasste“ (2020), noch nicht veröffentlicht.
[3] „‘Ich wollte meine Zeit erfassen‘. Ein Gespräch zwischen Jürgen Tabor und Florentina Pakosta“, in: AK Salzburg Museum der Moderne 2021, S. 113.
[4] Florentina Pakosta, „Mitglied der Wiener Secession“ (2003), in: Pakosta 2004, S. 94-114 und Florentina Pakosta im Gespräch mit Melissa Lumbroso und Jürgen Tabor, /members: secession Podcast, 2023 (09.01.2024), Weblink: Podcast.
[5] Vgl. Brigitte Borchhardt-Birbaumer, „Gewalt und Traumata“, in: AK Wien Albertina modern 2020, S. 491, 496 sowie Maria Christine Holter, „Umkehrungen. Die feministischen Zeichnungen Florentina Pakostas“, in: AK Wien Leopold 2011, S. 45-55.
[6] Cornelia Cabuk, „Genderantagonismen und Rollenbilder in der Kunst von Florentina Pakosta“, in: AK Leopold 2011, S. 33.
[7] In ihren Schriften thematisiert Florentina Pakosta immer wieder den Krieg. Zum Beispiel in folgenden Beiträgen: „Im Zwielicht des Kellers,“ „Krieg,“ oder „Das Soldat“ in: Pakosta 2018, S. 13-14, S. 47 und S. 49.
[8] Siehe den Aufsatz zu Florentina Pakosta von Elsy Lahner in: AK Salzburg Museum der Moderne 2021, S. 98-104, hier S. 104.
[9] Otto Breicha „Inständig und unbeirrt“, in AK Albertina 1984, o.S.
[10] Österreichischer Kunstpreis – Preisträger:innen 2023, Bundesministerium Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport, (09.01.2024), Weblink: Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport
[11] Für eine Auswahl siehe ALBERTINA. Sammlungen Online, zuletzt geändert am 11.01.2024 (11.01.2024), Weblink: Albertina Sammlungen Online Die ersten Ankäufe tätigte Walter Koschatzky kurz nach Pakostas erster Ausstellung in der Galerie von Ernst Fuchs (Gespräch der Autorin mit der Künstlerin am 6.12.2023).
[12] Siehe hierzu die Kataloge zu den Einzelausstellungen: AK Wien Albertina 1984, AK Wien Albertina 2003, AK Wien/Hannover Albertina/Sprengel 2018. Vertreten wurde Florentina Pakosta mit ihrem Werk in den Eröffnungsausstellungen der Standorte Albertina modern und Albertina Klosterneuburg (Siehe hierzu: AK Wien Albertina modern 2020 bzw. AK Wien Albertina Klosterneuburg 2024).
[13] Florentina Pakosta signiert und datiert ihre Werke manchmal erst anlässlich eines Verkaufs, einer Ausstellung oder einer Publikation. Es kommt auch vor, dass bereits veröffentlichte Titel geändert werden. Daher können die am Blatt angebrachten Datierungen bzw. Beschriftungen oder die bereits publizierten Werkangaben vom tatsächlichen Entstehungsjahr bzw. den endgültigen Titeln abweichen. Wo es Diskrepanzen gibt, sind diese bei den Vermerken angeführt.
[14] Von jeder Druckgrafik ist eine Auflage in das Verzeichnis aufgenommen; noch zu recherchieren sind die für die Gattung wichtigen Angaben wie Auflagennummer und -höhe. Einige Zustandsdrucke, mit Anmerkungen am Rand sowie Überzeichnungen mit Kreide oder Tinte wurden aufgenommen. Diese bieten doch einen Einblick in die Werkstatt Pakostas und helfen den künstlerischen Prozess zu verstehen.
[15] Breicha in AK Albertina 1984, o.S.
[16] Zur Rolle des Selbstbildnisses im Werk Pakostas, siehe auch den Film von Christiana Perschon mit Florentina Pakosta: Wenn ich mich zeichne, existiere ich dreifach, 2023, 12 min, uraufgeführt bei der Viennale '23.