Gustav Klimt Zeichnungen
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Beethovenfries, »Goldfische«
Beethovenfries, »Goldfische« 1902 (Band I)
Alice Strobl
Innerhalb der Kunst Klimts nimmt der von der Republik Österreich 1973 erworbene Beethovenfries, das einzige von ihm erhaltene Monumentalgemälde im neuen Stil, einen wichtigen Platz ein.
Das dargestellte Thema gibt eine bildliche Interpretation der 9. Symphonie von Beethoven wieder, die neuesten Forschungen zufolge einer Ausdeutung dieser Komposition durch Richard Wagner folgt, die er 1846 in einer Publikation festgelegt hat. [1] Erst der Vergleich dieser Erläuterungen mit den ausgeführten Darstellungen lässt die schöpferische Potenz Gustav Klimts entsprechend hervortreten. Bei diesem Werk dürfte es sich um eine großzügige Übertragung der Prinzipien spätarchaischer Vasendarstellungen in die Monumentalmalerei unter Berücksichtigung der Ausdrucksformen der zeitgenössischen Kunst (Stuck, Khnopff, Burne-Jones, Hodler, Minne, Mackintosh, Toorop, Sascha Schneider u.a.) handeln. Klimt hatte die antike Vasenmalerei nachweisbar seit 1890 studiert und sie in seinen Werken sowohl als schmückendes Beiwerk (Kat. Nr. 715) als auch als erläuternde Hintergrunddarstellung für die Figur im Vordergrund etwa bei der »Tragödie« (Kat. Nr. 340) oder der Pallas Athene [2] eingefügt. Beim Beethovenfries ging es jedoch nicht um ein bloßes Kopieren, sondern um eine großartige Umsetzung in einem parallel verlaufenden Stilisierungsvorgang. Auch in der Thematik, vor allem an der Schmalwand mit der Darstellung der »Feindlichen Gewalten«, knüpfte Klimt in der Wiedergabe des »Typhoeus« unmittelbar an den griechischen Mythos an. Die Studien für dieses Werk, von denen ca. 120 ausfindig gemacht werden konnten und ursprünglich sicher mehr als das Doppelte vorhanden waren, sind durch einen ganz spezifischen Zeichenstil gekennzeichnet, so dass sie sich unverwechselbar diesem Werk zuordnen. Dieser versucht mit einem Minimum an Binnenzeichnung auszukommen und ist meist auf rhythmisch geschwungene Umrisse von großer Geschmeidigkeit konzentriert, neben denen sich aber auch lineare, geometrische Formen finden. Innerhalb von Klimts erster Periode seines Neuen Stils stellen diese beinahe ausschließlich mit Kreide auf Packpapier ausgeführten Blätter einen Höhepunkt dar. Ihre Entstehungszeit lässt sich seit dem Bekanntwerden einer Nachricht von Bertha Zuckerkandl [3], in der von Vorarbeiten für den Beethovenfries bereits im Sommer 1901 die Rede ist, ungefähr auf die zweite Hälfte des Jahres 1901 fixieren.
Der Großteil dieser Blätter ist mit einem R in der rechten unteren Ecke bezeichnet, was in der Weise gedeutet wurde, dass es sich um jene Blätter handeln könnte, die zusammen mit dem Fries in den Besitz von Carl Reininghaus gelangten. [4] Von den erwähnten Zeichnungen kam um 1915 eine Auswahl der Besten zusammen mit dem Fries in den Besitz der Familie Lederer, die Klimt zu diesem Zeitpunkt (laut freundlicher Mitteilung von Erich Lederer) mit seinem Monogramm, einige wenige auch mit seiner vollen Signatur in Form des üblichen Blockes oder in ein Oval eingeschrieben versah. Einige Blätter scheinen auch im Besitz der Familie verblieben zu sein. Sie weisen die Nachlassbestätigung Hermine Klimts auf oder wurden von Franziska Klimt dem Historischen Museum der Stadt Wien überlassen. Eine kleine Anzahl trägt auch den Nachlassstempel.
Die auf die Beethovenfigur Klingers im Mittelsaal der Secession orientierte Komposition begann an der Längswand des linken Seitenraumes mit einer sich wiederholenden Gruppe horizontal schwebender Gestalten, »eine Art fortlaufendes Ornament«. [5] Diese verkörpern »Die Sehnsucht nach Glück«, ein durchlaufendes Motiv, das nur auf der Schmalseite durch die Herrschaft des Bösen weitgehend verdeckt dennoch aber vorhanden ist, und auf der zweiten Längswand über der »Poesie« durch zwei weitere Schwebende vermehrt, seinen Abschluss findet.
Die erhaltenen Entwürfe für die »Schwebenden Gestalten« zeigen sowohl Studien nach dem nackten Modell (Kat. Nr. 741–746) als auch Gewandstudien (Kat. Nr. 747–752, 836). Erstere schließen an Skizzen für »Fischblut« und »Bewegte Wasser« an. Besonders eng erscheint der Zusammenhang zwischen der Studie für »Fischblut« (Kat. Nr. 678) und Kat. Nr. 741, die sich im Vergleich mit Skizzen für die linke der Gorgonen, am augenfälligsten mit Kat. Nr. 782, doch eher dem Beethovenfries zuordnet. In der Gewandstudie (Kat. Nr. 748) wurde auf das Haltungsmotiv des linken Armes des in »Fischblut« (Kat. Nr. 675) in der rechten oberen Ecke sichtbaren Aktes zurückgegriffen. Dagegen erweisen sich Kat. Nr. 749 vor allem in der Wiedergabe des Kopfes und die beiden Skizzen (Kat. Nr. 750), in denen der Körper durch ondulierende Umrisse stärker artikuliert wird, der Ausführung näher. Darüber hinaus ist die Gesamterscheinung vereinfachter, großzügiger dem horizontalen Abschluss des Frieses Rechnung tragend, wiedergegeben. Eine einzige dieser schwebenden Figuren hat Klimt stehend studiert, Kat. Nr. 751/2, und das Endprodukt Kat. Nr. 836 seitenverkehrt in die Horizontale geklappt, in den Fries aufgenommen. Diese Schwebende verrät am deutlichsten das Anschließen an eine ähnliche Darstellung Jan Toorops. [6] Trotz der Ähnlichkeit des Motivs ist sie jedoch völlig in Klimts Stil integriert. Die folgenden Dreiergruppen symbolisieren »Die Leiden der schwachen Menschheit« und »Den wohlgerüsteten Starken«, den »Mitleid« und »Ehrgeiz« bewegen, die Bitten der ihn anflehenden Menschen zu erhören. Für das zur ersten Gruppe gehörende Mädchen hat sich eine Reihe von Entwürfen erhalten. In der schönsten, im Profil nach links gerichteten Studie Kat. Nr. 760 drückt sich in ausgezeichneter Weise das Eckige teils noch Unbeholfene eines heranwachsenden Kindes in Umriss und Stellungsmotiv aus. In dem Parallelismus der Linien ist die Plastizität des schmächtigen Körpers unter Vermeidung von Binnenzeichnung voll integriert. Die Studien für das kniende Menschenpaar liegen dagegen nur im Endstadium vor (Kat. Nr. 761–763). Im Kniemotiv sowie den waagrecht nach vorne gehaltenen Armen und der hageren Körperauffassung kommen Anregungen George Minnes und Jan Toorops zum Ausdruck. Wie aus Kat. Nr. 761/2 hervorgeht, scheint Klimt eine Veränderung der Haltung der linken Hand durchgeführt zu haben, die ursprünglich bei Mann und Frau an den Kopf gelegt war. Erst in der Ausführung besitzen sowohl der Mann als auch die Frau ineinandergelegte Hände. Ihre geistige und körperliche Verbindung zu dem halbwüchsigen Mädchen zeigt sich besonders deutlich in den gleichlautenden Rückenumrisslinien. In dieser Gruppe kommt das, was Hodler an Klimts Fresken besonders schätzte, zum Ausdruck: Parallelismus, Formwiederholung und Rhythmik. [7]
Für den Ritter wählte Klimt einen der schönsten Harnische der kaiserlichen Waffensammlung, jenen von Lorenz Helmschmied für Erzherzog Sigmund v. Tirol, in Augsburg 1485 geschaffen (Waffensammlung des Kunsthist. Museums Inv. A 62), den er mit dem Helm des Hl. Severin (Waffensammlung d. Kunsthist. Mus. Inv. A3) kombinierte. [8] Während die im Fries von Klimt in Gold verwandelte Rüstung nur in einer flüchtigen Skizze angedeutet ist (Kat. Nr. 764) – sicher gab es eine ganze Reihe davon – , haben sich für den Kopf des Ritters fünf Studien erhalten (Kat. Nr. 764–766). In der Gestalt des Ritters vereinigen sich sicher mehrere Vorstellungen. Naheliegend und im Zusammenhang mit den Gorgonen und dem Typhoeus der Schmalwand gesehen, sowohl die des Perseus als auch jene des Zeus. Sicher war Klimt auch der Gedanke an den Ritter von Dürers Meisterstich »Ritter, Tod und Teufel« geläufig. Darüber hinaus gab es aber auch unmittelbare Bezüge zum Zeitgeschehen. Aussagen Alma Mahlers zufolge soll Klimt in der Gestalt des Ritters Gustav Mahler, den Streiter für die moderne Musik und gleichzeitigen Interpreten der Werke Ludwig van Beethovens, dargestellt haben. [9] Ebenso ist auch die Möglichkeit einer Selbstdarstellung Klimts als Wegbereiter der modernen Malerei [10] durchaus nicht von der Hand zu weisen. Für die Begleiterinnen des Ritters wählte Klimt »Mitleid« und »Ehrgeiz«, Allegorien, die sich von Gedanken Friedrich Nietzsches ableiten lassen. [11] In der Figur des »Mitleides« (Kat. Nr. 768/9) nahm Klimt das in der »Medizin« bereits benützte (Kat. Nr. 631) und bei dem halbwüchsigen Mädchen des Frieses (Kat. Nr. 753/4) nicht verwendete Motiv der an die Wange gehaltenen Hände wieder auf. Im Gegensatz zur Allegorie des »Mitleides« ist in der Verkörperung des »Ehrgeiz« alles in die Höhe strebend, vertikal wiedergegeben (Kat. Nr. 770/71); sie setzt die Tradition der »Tragödie«, der »Hygieia« und der Nikendarstellungen fort. Besonders ins Auge fällt in der Ausführung die ausgewogene Komposition der drei Köpfe, ein Motiv, das auch an der Schmalwand bei der Dreiheit »Wollust«, »Unkeuschheit« und »Unmäßigkeit« wiederkehrt. Es könnte von Burne-Jones' Illustrationen zu William Morris' Gedicht »Irdisches Paradies« angeregt sein, und zwar von jener, die Perseus mit dem abgeschlagenen Haupt der Medusa, der einzig sterblichen der Gorgonen, und Andromeda am Brunnen zeigt, wie sie das Spiegelbild der Gorgo im Wasser betrachten, um ihrem tödlichen Blick zu entgehen. [12]
Der Gigant »Typhoeus«, gegen den selbst Götter vergebens kämpften, seine Töchter, die drei Gorgonen sowie Krankheit, Wahnsinn und Tod haben Klimt am meisten beschäftigt, was auch noch für »Wollust«, »Unkeuschheit« und »Unmäßigkeit« sowie für den »Nagenden Kummer« gilt, Darstellungen, die sich alle an der Schmalwand befinden. Die meisten Studien entstanden im Zusammenhang mit den drei Gorgonen. In den Skizzen (Kat. Nr. 772–806) erfasste Klimt den weiblichen Körper in allen Phasen einer Bewegung, so dass oft die Unterschiede zwischen den einzelnen Stellungen gering erscheinen. Dabei legte er immer wieder auf ein anderes Detail Wert. Dies gilt von den Gesten, den Kopfhaltungen und der Wiedergabe des Haares in allen Nuancen der Schwarz-Weiß-Skala. In manchen der Blätter ist auch der dämonische Blick bereits angedeutet, Kat. Nr. 797, 801. Zwei Varianten der Komposition für die drei Gorgonen auf einem Blatt, Kat. Nr. 802, haben die Studien für diese »schönen Hexen« [13] zur Voraussetzung. Die beiden Lösungen unterscheiden sich im Wesentlichen nur durch die Mittelfigur, die in der linken Skizze auf Kat. Nr. 791 fußt, während in der rechten, für die Ausführung gewählten, an eine streng frontale Darstellung (Kat. Nr. 801) angeschlossen wurde. Auffallend an beiden Kompositionsskizzen ist das Vorkommen eines kopfähnlichen Gebildes am unteren Rand, an das die rechte der Gorgonen in der Ausführung mit einer Kette gefesselt erscheint. Klimt dürfte damit die an die Erde gebundene, von Perseus getötete Medusa gemeint haben. Darauf nahm er wohl auch in der Studie (Kat. Nr. 804) durch einen die Füße verdeckenden Schleier Bezug, was wiederum nur im Zusammenhang mit der Darstellung des von einem Schleier des Todes eingehüllten Neugeborenen der »Medizin« zu verstehen ist. Vorformen der Gorgonen finden sich in der »Hexe« von 1898 (Kat. Nr. 331), in der »Nuda Veritas« (Kat. Nr. 350) und in »Januar« (Kat. Nr. 723). Sicher kamen auch Anregungen von außen, wie sich dies bei der für die Ausführung nicht verwendeten Studie Kat. Nr. 792 feststellen ließ. Diese tradierte das Motiv der linken Furie des 1891 entstandenen Gemäldes »Der Mörder« von Franz Stuck seitenverkehrt weiter [14] oder nahm auf eine für diese Figur geschaffene, in Ver Sacrum wohl erst 1902, S. 210, reproduzierte, Klimt sicher bereits früher bekannte Studie Bezug. [15] Bei der Komposition der drei Gorgonen mag auch eine ähnliche Gruppe in der kleinen »Sphinx« von Jan Toorop richtungweisend gewesen sein. [16]
Von den über den Gorgonen dargestellten Köpfen und der mit eckiger Armhaltung die Gorgonen umklammernden als »Tod« gedeuteten Figur liegen nur Studien für letztere vor. Wie der rechte Arm in Kat. Nr. 809 andeutet, dürfte Klimt das Stellungsmotiv zuerst mit seitlich ausgebreiteten Armen studiert haben. Hier könnte eine weitere Darstellung von Burne-Jones' Perseuszyklus »Perseus und die Schwestern der Gorgonen«, und zwar die linke Figur [17] den Ausgangspunkt für Klimts Modellstudien gebildet haben. Er erwog dann die Wiedergabe eines älteren Mannes in dieser Haltung (Kat. Nr. 807), bei dem sich das Eckige der Bewegung bereits viel ausgeprägter findet und stellte schließlich im Fries einen ausgezehrten weiblichen Körper mit rechtwinkelig gehaltenen Armen dar. Diese Stellung hat wieder ihre Entsprechung im linken Arm des »Typhoeus«, zu dem keine einzige Studie erhalten blieb.
In diesem Ungeheuer konkretisierte Klimt die verschiedensten Gedanken und Bildvorstellungen von Monstren. Zugrunde liegt die Idee der Antike vom gewaltigsten aller Ungeheuer, gegen das selbst Zeus vergebens kämpfte; seine Arme reichten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und es war sowohl geflügelt als auch schlangenfüßig. [18] Die einzige Quelle für diese Darstellung, von der der Verfasser mit Sicherheit nachweisen kann, dass sie Klimt zugänglich war, findet sich im 3. Band des Werkes »Außerlesene griechische Vasenbilder« [19], das er bereits bei anderen Darstellungen verwendet hatte. Es heißt dort: »Übermächtig in Größe und Gestalt steht das Ungethüm Typhon ihm (Zeus) gegenüber; den blitzenden Zeus blickt es trotzig an und scheint mit einwärts gewandten Armen sein zuversichtliches Selbstvertrauen ihm auszusprechen.« Wie weit Klimt noch auf antike Textquellen, Apolodor, Hesiod, Pindar, Ovid, Vergil u.a., zurückgegriffen hat, ist kaum feststellbar. Im Zusammenhang mit Ideen der Zeit, die in einem Affen die Versinnbildlichung alles Bösen sah, veränderte Klimt den menschlichen Oberkörper des Monstrum in einen Gorilla, wobei Darstellungen eines heute völlig in Vergessenheit geratenen Künstlers, Sascha Schneider (geb. 1890 in St. Petersburg, gest. 1927 in Swinemünde), einen Hinweis gegeben haben mögen. [20] Schließlich könnte auch Stucks Luzifer [21] mit seiner geflügelten Gestalt und dem rechtwinkelig eingebeugten Arm und der Fixierung der Augen auf den Betrachter anregend gewirkt haben.
Die Darstellungen der »Unkeuschheit« und des »Nagenden Kummers« sind das Ergebnis von Studien eines neuen Motivs (Kat. Nr. 811, 826, 840), das selbst noch bei den »Künsten« (Kat. Nr. 839, 841) nachwirkt. Bei dieser sitzenden Stellung ist ein Bein ganz nahe an den Körper herangezogen und in manchen Fällen auch auf den Oberschenkel des anderen gestellt. Bei der »Unkeuschheit« an einem blühenden, verführerischen Frauenakt angewendet, beim »Nagenden Kummer« an einem ausgezehrten Körper variiert (Kat. Nr. 825). Auch die »Wollust« hat Klimt in verschiedenen Stellungen studiert. Sitzend von vorne mit beiderseitig herabfallendem Haar (Kat. Nr.812/13), den rechten Arm auf das Knie gestützt (Kat. Nr. 814), aber auch halb liegend (Kat. Nr. 815) oder kniend (Kat. Nr. 816). Durch die nach links stehende Betrachter bezogene Figur auf demselben Blatt, welche der Endphase der Studienreihe für die Hauptfigur von »Irrlichter« mit Ausnahme der Haltung der Arme sehr nahe kommt (Kat. Nr. 705), ist eine Querverbindung zu dem 1899 begonnenen und 1903 vollendeten Gemälde gegeben.
Für die Allegorie der »Unmäßigkeit« kehrt ein in der »Medizin« als Amme bereits vorgestelltes ähnliches Modell (Kat. Nr. 570–74), die von Hevesi beschriebene Dame aus der Josefstadt (1906, S. 448) wieder (Kat. Nr. 817–20). Der untere Teil ihres Körpers ist mit einem Rock bekleidet, ähnlich jenem, den der »Herr der Welt« von Sascha Schneider in der gleichnamigen Darstellung [22] trägt. Von anderer Seite wurde auf die Abhängigkeit dieser Figur von Beardsley's Ali Baba, was Körpermaße und Anbringung reicher Geschmeide betrifft, hingewiesen. [23] Für die Darstellung des »Nagenden Kummers«, mit welchem der Künstler seiner eigenen Aussage nach die Syphilis gemeint haben soll, eine damals sehr gefürchtete und verbreitete Krankheit [24], erwog er verschiedene Stellungen. Als erste Studien zeichnete Klimt ein auf dem Boden zusammengekauertes Modell und einen durch die Haare mit völlig verdecktem Gesicht nach rechts stehenden Akt (Kat. Nr. 821). Dieses von einer der Figuren der »Medizin« abgeleitetes und seitenverkehrt wiedergegebenes Motiv nahm Klimt, nachdem er es für den Beethovenfries nicht verwendet hatte, für die Studien der »Verbrecherin« der »Jurisprudenz« wieder auf (Kat. Nr. 871). Da er es auch in diesem Werk nicht benützte, kehrte es in späteren Zeichnungen wieder. Weitere Studien zeigen das Kniemotiv der alten Frau der »Philosophie« Kat. Nr. 469, jedoch an einem jungen Geschöpf abgewandelt und völlig verblockt (Kat. Nr. 822–24). Selbst der herabstürzende weibliche Akt in der »Philosophie« wird wieder aufgenommen (Kat. Nr. 840), aber zu Gunsten einer von vorne Kauernden auf demselben Blatt verlassen. Die übrigen Entwürfe führen von einer mit aufgestütztem Kopf sitzenden Gewandfigur (Kat. Nr. 824/29) wieder zur Stellung der »Unkeuschheit«, zunächst in bekleideter (Kat. Nr. 827), dann in halbbekleideter Form (Kat. Nr. 829), und schließlich zur Gestalt eines asketischen Mannes (Kat. Nr. 825). Diese der Ausführung unmittelbar vorangehende Studie wird für die Darstellung im Fries durch ein Blatt ergänzt, in dem der Körper mit einem durchscheinenden Gewebe bedeckt erscheint (Kat. Nr. 826). Für die Endfassung wählte Klimt wieder ein älteres ausgemergeltes Weib.
Während auf dieser Schmalwand alle Mächte des Bösen wirksam sind, leitet die rechte Längswand in eine ideale Sphäre über. In dieser findet »Die Sehnsucht nach Glück Stillung in der Poesie«. Hier nahm Klimt auf Richard Wagners Gedanken von der vermittelnden Rolle der Künste und deren erlösendem Einfluss auf die Menschheit Bezug. [25] In den Studien zur »Poesie«, für deren Verkörperung Klimt an die Vorstellung vom antiken Sänger anschloss, wählte er eine Kithara spielende Frau. Auch hier ist wieder eine nähere Verbindung zur spätarchaischen Formensprache zu spüren. Zum Unterschied thematisch ähnlicher Darstellungen wie »Musik I« oder Kat. Nr. 715 ist das Gewand ähnlich wie bei Korendarstellungen knapp über den Körper gespannt und lässt diesen voll zur Geltung kommen (Kat. Nr. 832/33). In der Studie Kat. Nr. 834 und in der Ausführung ist hievon nur mehr eine leise Schwingung zu spüren. Trotz der Ableitung des Gewandmusters von mykenischen und ägyptischen Vorbildern ist die Figur ganz in den ornamentalen Stil Klimts übergeführt. Ein Skizzenblatt Kat. Nr. 837 enthält auch die Profilansicht des Kopfes der »Poesie«, der bis auf die Frisur der Ausführung weitgehend entspricht. In ihm spiegelt sich noch immer das von Fernand Khnopff inspirierte Schönheitsideal ähnlich wie in der Reinzeichnung der Initiale D für das Märzheft von Ver Sacrum 1898 (Kat. Nr. 342). Auch die Darstellung der »Künste« ist, wie die Kat. Nrn. 839, 841 beweisen, unmittelbar aus den Studien für die »Unkeuschheit« hervorgegangen. Ihre Körper wurden jedoch durch das Überdecken mit kurvilinearen Schleiern entmaterialisiert, der Ausdruck ihres Gesichts mit den geschlossenen Augen in eine ideale Sphäre entrückt.
Auch für jene Figuren, die mit ausgestreckten Armen – eine Wiederaufnahme eines Motivs aus »Fischblut« – die Verbindung mit der mittelalterlichen Engelschören vergleichbaren Gruppe von Singenden und Spielenden (Kat. Nr. 846/47) herstellen, haben sich einige Studien erhalten (Kat. Nr. 842–45, 857).
Den Abschluss der Komposition des Beethovenfrieses bildet ein in einem »hortus conclusus« wiedergegebenes Liebespaar, das als Sinnbild für die erlöste Menschheit anzusehen ist, und sich unmittelbar auf den Schlusschor von Beethovens 9. Symphonie »Freude, schöner Götterfunken« und »Diesen Kuss der ganzen Welt« nach der »Ode an die Freude« von Schiller bezieht. [26]
Die Studienreihe für das Liebespaar nahm ihren Ausgang von einer ähnlichen Darstellung in Toorops kleiner »Sphinx« [27], mit der sich Kat. Nr. 848 weitgehend berührt, Zwischenglieder bis zu Kat. Nr. 852 fehlen, die das Motiv des Rückenaktes des Mannes ähnlich wie es sich in den Studien für die »Philosophie« Kat. Nr. 464 findet, seitenverkehrt aufnimmt und weiter variiert. Auch die Stellung der Frau mit nach hinten gesenktem Kopf leitet sich von der Haltung der Frau in der »Philosophie« her. In den Studien Kat. Nr. 855/56 deutet sich bereits die endgültige Lösung an, in der die Frau beide Arme um den Hals des sie ebenfalls mit beiden Armen umfassenden Mannes geschlungen hat. Dadurch gewann die Gruppe einen horizontalen Abschluss nach oben. Die Detailstudie der Hände in Kat. Nr. 856 entspricht weitgehend der Ausführung, die Köpfe sind dagegen wieder näher aneinandergerückt, die Zeichnung der Muskel ornamentaler durchgeführt, was sich auch im Umriss des Mannes ausdrückt. Während in den Studien die Akte von Mann und Frau in der Helligkeit gleiche Valeurs besitzen, hat Klimt im Fries – sicher nicht ohne Einfluss der griechischen Vasenmalerei – den männlichen Körper dunkel, jenen der Frau ganz hell und sehr zart im Umriss gestaltet. In diesem ganz feinen Lineament könnten weitere Wurzeln für Klimts Zeichenweise in den Jahren 1904/05 liegen. Ein ebenfalls in die Zukunft weisendes wichtiges Element ist die Ringornamentik bei den angedeuteten Baumstämmen des Gartens, die als Abkürzungsform für Blüten deutlich erkennbar ist. Ähnlich zu deuten dürften auch die Kräusel in den Darstellungen der Gewänder seit 1903 sein, die aber darüber hinaus zu einem sehr wichtigen kompositorischen Element der Zeichnungen werden.
Als Ergebnis der Studien für den Beethovenfries ist auch die Vordergrundfigur in den »Goldfischen« anzusehen, die in der XIII. Ausstellung der Secession Februar-März 1902 gezeigt wurden. Klimt zog für diesen Akt ein Stellungsmotiv heran, das unter den Studien für die »Wollust« zu finden ist (Kat. Nr. 812/13), zeichnete es aber vom Rücken aus gesehen (Kat. Nr. 862). Abgesehen von der Haltung stimmen auch Zeichenstil und Gestaltung der Haare weitgehend überein. Das genannte Blatt galt immer schon als Vorzeichnung für die Hauptfigur der »Goldfische«, die von Zeitgenossen als Venus Kallypigos bezeichnet wurde. [28] Eine Reihe ganz ähnlicher Stellungen findet sich dann häufig im Spätwerk des Künstlers. Auch die zweite, allein vom Rücken gesehene und von »Irrlichter« abgeleitete Studie (Kat. Nr. 862), fand Verwendung in »Goldfische«. Zeitungsmeldungen zufolge soll Klimt mit diesem Bild eine Art Manifest der Öffentlichkeit präsentiert haben, das sowohl ein wenig mit dem »Medizin«-Skandal als auch damit in Zusammenhang stand, dass trotz des einstimmigen Vorschlags des Professorenkollegiums seine Ernennung zum Professor an der Akademie der bildenden Künste vom Ministerium für Cultus und Unterricht nicht bestätigt wurde. [29] Bereits im Dezember 1893 war Klimt für diese Tätigkeit vorgesehen gewesen und nicht ernannt worden.
[1] Bisanz-Prakken 1977, S. 32
[2] Bisanz-Prakken 1976, S. 10
[3] Wr. Allg. Ztg. 30.3.1902; Bisanz-Prakken 1977, S. 13
[4] Ausst. Kat. Ch. M. Nebehay 1976, Anm. zu Nr. 42
[5] Hevesi 1906, S. 392
[6] Bisanz-Prakken 1978, S. 179, Abb. 66
[7] Wiener Feuilletons- und Notizenkorrespondenz 21.1.1904
[8] Freundl. Mitteilung Hofrat Dr. O. Gamber
[9] Comini 1975, S. 25; siehe auch Bisanz-Prakken 1977, S. 39
[10] Bisanz-Prakken 1977, S. 34 f.
[11] Bisanz-Prakken 1977, S. 34
[12] Schleinitz, Abb. 99, Das Schreckenshaupt
[13] Bisanz-Prakken 1977, S. 54
[14] Voss, 54/279
[15] Auf die mich Dr. M. Bisanz-Prakken freundlicherweise aufmerksam machte.
[16] Bisanz-Prakken 1978, S. 193, Abb.
[17] Schleinitz Abb. 95
[18] G. Seippel, Der Typhonmythos, in Greifswalder Beiträge zur Literatur- und Stilforschung, Greifswald 1939, S. 57
[19] Hauptsächlich etruskischen Fundorts, herausgegeben von Eduard Gerhard, 3. T., Berlin 1847, Taf. CCXXXVII, Text S. 158
[20] Die Gegenwart, 64. Bd. 1903, Nr. 52, machte auf diesen Künstler aufmerksam.
[21] Voss, 14/275
[22] S. Schneider, Meisterwerke der Holzschneide-Kunst, Leipzig o.J.
[23] Novotny-Dobai S. 328; Comini 1975, Abb. 38, S. 21
[24] Freundl. Mitteilung Erich Lederer
[25] Bisanz-Prakken 1977, S. 34
[26] Bisanz-Prakken 1977, S. 32, 43
[27] Bisanz-Prakken, 1978, S. 184, Abb. 67, 68
[28] Die Gegenwart, 64 Bd. Nr. 52, S. 409
[29] Siehe dazu die Akten des Archivs der Akademie der bildenden Künste in Wien Z. 633-1901, 4-1902 und den Artikel in der Zeitung Die Zeit, 12.4.1902, S. 30.