Gustav Klimt Zeichnungen
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Fakultätsbild Jurisprudenz
Fakultätsbild Jurisprudenz 1903-1907 (Band I)
Alice Strobl
Die ersten Ideen für das dritte der Fakultätsbilder, die »Jurisprudenz«, dürften – wie bereits angedeutet – auf die Jahre 1894/95 zurückgehen, weil der 1898 der Kommission vorgelegte gemalte Kompositionsentwurf im Gegensatz zu jenen für »Philosophie« und »Medizin« die ursprünglich geplante Ein- bis Zweifigurigkeit der Fakultätsbilder, die Matsch für die Ausführung der »Theologie« auch beibehielt, aufwies. Diesem gemalten Entwurf entsprach die Studie (Kat. Nr. 864) bis auf die etwas veränderte Armhaltung weitgehend, wenn man, was bisher nicht in Betracht gezogen wurde, annimmt, dass Klimt erst nach Vorlage des gemalten Kompositionsentwurfs bei der Kommission die schwungvolle Rockpartie angebracht hat, etwa zu jener Zeit, als er an dem Bildnis Serena Lederer arbeitete (um 1899), dessen Gewandbehandlung ähnliche Züge aufweist. Betrachtet man diesen gemalten Entwurf genau, so wird selbst noch in der Reproduktion der linke Umriss des Kleides der »Justitia« wahrnehmbar. Die auf diese Weise gewonnene Vorstellung verbindet sich stilistisch mit den ersten Studien für die Ausstattung des Musikzimmers des Palais Dumba, die auf Postamente gestellte Figuren in starker Untersicht zeigen (Kat. Nr. 300, 303), deren Entstehungszeit mit 1894 anzunehmen ist. Klimt mag sich durch die Bemerkungen der Kommission, die eine deutlichere Charakterisierung der Hauptfigur, eine größere Ruhe in ihrer Stellung und eine entsprechende Verbesserung der in den unteren Partien des Bildes bemerkbaren Leere wünschte [1], veranlasst gesehen haben, den großzügigen Schwung des Gewandes anzubringen.
Die von Karl Kraus 1900 wiedergegebene Beschreibung des gemalten, der Kommission 1898 vorgelegten Entwurfes [2] weicht jedoch noch stärker von der uns allerdings nur in Reproduktionen überlieferten gemalten Komposition ab. Dort heißt es: »Der Entwurf, den er seinerzeit der Commission vorlegte, zeigte eine Themis, deren umgekehrtes Schwert mit der Spitze auf einem todten Drachen stand. Von der Seite sah ein Mann neugierig in das Bild herein, durch eine Thüre, wenn ich mich recht erinnere. Man hatte damals Mühe, Herrn Klimt begreiflich zu machen, dass die Themis die Rechtsausübung bedeute und in den Gerichtssaal gehöre, dass es sich jedoch an der Universität um die Rechtserforschung handle. Wer aber der Mann sei, der da hereinschaut, das hätte niemand in der Commission ergründen können, wenn nicht Herr Klimt allen Ernstes betheuert hätte, das sei — die österreichische Verfassung.« Diese von Karl Kraus immerhin zwei Jahre nach der Vorlage des Entwurfs an die Kommission gemachten Bemerkungen, die in keinem der Akten nachgewiesen werden konnten, geben mehr Rätsel auf, als solche zu lösen. Eines ist jedoch sicher, dass Klimt auch bezüglich der »Jurisprudenz« in Kompositionsskizzen die verschiedensten Möglichkeiten ausgeschöpft hat, von denen nur ganz wenige auf uns gekommen sind, wie etwa eine kleine Stellungsstudie, die sich zusammen mit Skizzen für »Weltliche und Geistliche Musik« (Kat. Nr. 282b) auf der Rückseite einer mit dem letztgenannten Thema in Zusammenhang stehenden, um 1896 entstandenen Zeichnung (Kat. Nr. 286) fand.
Von Bedeutung erscheint nun die Frage, wann Klimt die Studien für das ausgeführte Gemälde in Angriff genommen hat. Hier gibt ein anlässlich der Fertigstellung der »Medizin« 1901 stattgefundenes, bisher unbekannt gebliebenes Interview [3] einen Hinweis, in dem Klimt, darüber befragt, ob er die »Jurisprudenz« bereits begonnen habe, antwortete: »Ja und nein. Ich hatte eine Skizze fertig und an dieser hat dieselbe Commission, welche über die >Philosophie< und >Medizin< urtheilte, Aenderungen gewünscht. Nun werde ich etwas Neues entwerfen.« Für diesen Entschluss dürfte jedoch auch ausschlaggebend gewesen sein, dass Klimt inzwischen über den gemalten Kompositionsentwurf künstlerisch hinausgewachsen war.
Eine von sicher vielen unbekannten Kompositionsskizzen (Kat. Nr. 866), welche die endgültige Lösung vorbereiteten, fand sich auf der Rückseite einer die »Jurisprudenz« als Einzelfigur darstellenden Zeichnung (Kat. Nr. 865). Erstgenannte zeigt auf der linken Seite eine übergroße, frontal stehende Figur, die sowohl an einen Rächer als auch an die »Sphinx« der »Philosophie« (Dr. M. Bisanz-Prakken) erinnert, und vor dieser einen knienden Mann, der ursprünglich stehend geplant war, wiedergibt. Rechts Zuschauer, möglicherweise Rechtsgelehrte. Die beherrschende Figur wurde in ein Wesen mit in die Höhe gestreckten Armen verändert, das sowohl die Verbindung zu einer Klimtzeichnung (Kat. Nr. 867), einem Mann mit quergehaltenem Schwert, als auch zu einer Federzeichnung von Max Slevogt, »Das Drama von Peking« [4], herstellt. In Klimts Kompositionsskizze ist der Gedanke, einen Verbrecher in der Gewalt eines Rächers wiederzugeben, bereits vorgeformt. Von Bedeutung erscheint in diesem Zusammenhang auch die Vorderseite (Kat. Nr. 865), die in ihrer Frontalität, dem Kopfschmuck und der Haltung der Arme deutlich an die Hygieia (Kat. Nr. 516) anschließt, stilistisch jedoch den Studien für das Widmungsblatt für Rudolf v. Alt (Kat. Nr. 712) und der »Musik« von 1901 (Kat. Nr. 715) näher kommt. Dies würde auch zeitlich mit der in dem Interview gemachten Aussage übereinstimmen. Das endgültige Konzept, die Übertragungsskizze (Kat. Nr. 942), dürfte aber erst 1903 entstanden sein, da sie sowohl den Beethovenfries von 1902 als auch die Ravennareise im Mai des Jahres 1903 zur Voraussetzung hat. Allerdings dürfte Klimt bei der Umsetzung der Übertragungsskizze auf die Leinwand etwas davon abgewichen sein – ähnlich wie er es auch bei der »Medizin« tat – , sonst hätte es nicht in einer Zeitungsmeldung anlässlich der Ausstellung der Fakultätsbilder 1907 in der Galerie Miethke in Wien heißen können: »Am einschneidendsten sind die Änderungen in dem Bilde, das eine Allegorie auf die Jurisprudenz bedeuten sollte. Der schräge Mauerwall, der durch das Bild ging, und die Richter in roten Roben sind verschwunden, ein waagrechter Wolkenstreif trennt nun die obere von der unteren Figurengruppe. [5]« Von einem Mauerwall, der quer durch das Bild ging, wusste auch Hevesi zu berichten, als er im Juli 1903 Klimts »Jurisprudenz« in noch sehr unfertigem Zustand sah. Er wies besonders auf den Kontrast zwischen der alten Quadermauer eines Gerichtshauses und dem damals bereits angedeuteten Glanz der oberen Sphäre hin, der ihn nach Vollendung des Bildes an knapp vorher besichtigte sizilianische Mosaiken in Cefalù, Monreale und in der Cappella Pallatina in Palermo denken ließ. [6] Es kann sein, dass Klimt hier Innen- und Außenansicht ravennatischer Bauten in faszinierender Weise miteinander vereinen wollte.
Was den Mauerwall betrifft, dürfte Klimt jedoch zum ursprünglichen Konzept, wie es in der Übertragungsskizze vorlag, wieder zurückgekehrt sein (Kat. Nr. 942). In dieser blieben ebenso wie in dem auf der Klimt-Kollektive 1903 ausgestellten und im Katalog reproduzierten ersten Zustand von der Darstellung der Mauer nur kleine Teile links und rechts der oberen Figurengruppe übrig.
Dieser erste Zustand der »Jurisprudenz« entsprach weitgehendst dem Endzustand. Unterschiede lassen sich am Umriss der linken der Erinnyen, bei der rechten sowie im Hintergrund der »Justitia«, und in ihrer Haartracht feststellen. [7] Hierbei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Klimt die »Jurisprudenz« als ein vollkommen in sich geschlossenes Werk konzipierte, während er »Medizin« und »Philosophie « in der Komposition aufeinander abgestimmt hatte und nach dem Wegfallen der Anbringung der beiden Werke nebeneinander, Korrekturen vornehmen musste. Darüber hinaus wollte er ihnen auch etwas von dem Goldglanz verleihen, der die »Jurisprudenz« in so hohem Maße auszeichnete.
Im Gegensatz zu »Philosophie« und »Beethovenfries«, zu deren erster Ausstellung es im Katalog Deutungen gab, vermerkte jener der Klimt-Kollektive nur: »Jurisprudenz, Deckenbild für die Aula der k. k. Universität Wien. Unvollendet.« Offensichtlich erschien das Gemälde Klimt in einer Weise verständlich, die keinen erklärenden Text notwendig machte. Nichtsdestoweniger wurde das Fehlen einer derartigen Erklärung angeprangert und die »Jurisprudenz« als ein noch größeres Rätselbild als die anderen beiden Fakultätsbilder angesehen. [8] Die Deutungsversuche in den verschiedenen Tageszeitungen gingen, abgesehen von der Gestalt des Verbrechers, merklich auseinander. Bei dessen Wiedergabe dürfte Klimt von einer Darstellung Sascha Schneiders »Gefühl der Abhängigkeit« ausgegangen sein [9], worauf die Studien eines jüngeren, mit gebeugtem Haupt stehenden Mannes (Kat. Nr. 868/69) deuten. Wie die Studien (Kat. Nr. 870–874) zeigen, scheint Klimt jedoch auch die Darstellung einer »Verbrecherin« erwogen zu haben, was er aber im Hinblick auf die drei Erinnyen zugunsten größerer Variabilität wieder aufgab, und zu einer Wiedergabe eines alten nach rechts gebeugten bärtigen Mannes überging (Kat. Nr. 875–880), mit dessen »verlorensten der verlorenen Profile« [10] er die ganze Tragweite des Elends dieser Kreatur ausdrücken wollte. Schließlich wählte er ein bartloses Modell (Kat. Nr. 881), das er sowohl für die Übertragungsskizze als auch für die Ausführung beibehielt. In der psychologischen Erfassung des Verbrechers ging Klimt viel weiter als Sascha Schneider. Dies drückt sich sowohl in dem Gestus der Hände, der einer Fesselung gleichkommt, als auch im Vorkragen der Schulterblätter besonders deutlich aus. Darüber hinaus soll es sich bei dieser im Gemälde am realistischesten wiedergegebenen Figur um ein »fabelhaft ähnliches Porträt« gehandelt haben, wie W. Dessauer noch zwanzig Jahre nach Klimts Tod zu berichten wusste. [11]
Am meisten Schwierigkeiten bereitete die Erklärung des Polypen, für den sich wie für alle anderen in Gemälden Klimts vorkommenden Ungeheuer keine Studien erhalten haben. Die Deutungen reichen von der Verkörperung der Gewissensbisse [12] über jene des Verbrechens an sich bis zu dem der Studentensprache entnommenen Spitznamen für einen Polizisten. [13]
Bereits im gemalten Kompositionsentwurf für die »Jurisprudenz« spielte ein drachenartiges Wesen eine Rolle, das gebändigt zu Füßen der »Justitia« zu sehen war. Im endgültigen Entwurf wurde es zu einer beherrschenden Gestalt, welcher der Sünder verfallen zu sein scheint und mit dem sich die verschiedensten Vorstellungen verbinden. In erster Linie wohl jene von einem Ungeheuer, wie es auf mittelalterlichen Darstellungen des »Jüngsten Gerichts« wiedergegeben ist, in dessen Höllenrachen alle Verdammten Aufnahme fanden. Im Unterschied zu diesem besaß jedoch der Polyp keinen Riesenschlund, sondern eine Unzahl in Gold funkelnder Saugnäpfe, um den mit den Fangarmen festgehaltenen Verbrecher zu vernichten. Hevesi kam beim Anblick des Polypen eine »neuamerikanische Hinrichtungsmaschine« in den Sinn [14], während ein anderer Kritiker an Argus den Allessehenden, das tausendäugige Gesetz, dem kein Verbrecher entkommt, dachte. [15]
Auch in den drei den Verbrecher umgebenden weiblichen Gestalten, Erinnyen oder Furien benannt, sah man die Verkörperungen der Gewissensbisse, die Vollstrecker einer höheren, außerirdischen Gewalt und schloss damit an den Eumenidenglauben der Antike an. [16] Man vermeinte, in ihnen die unterirdischen Rachegöttinnen, die jeden Frevel wider das ungeschriebene Sittengesetz bestrafen, zu sehen, eine Vorstellung, der auch Franz Stuck in seinem Gemälde »Das böse Gewissen« von 1896 [17] im Anschluss an P. P. Prud'hons Werk »La Justice et la Vengeance divine poursuivant le crime« Ausdruck verlieh.
Wurde bei Stuck das Geschehen, der von den Furien gejagte Verbrecher, stark bewegt wiedergegeben, so verlegte Klimt die Aktion ins Innere der Figuren. Von ihr zeugen allein verhaltene Gesten und der Ausdruck der Gesichter, was Servaes veranlasste, die drei Erinnyen als das Gewaltigste zu bezeichnen, was die neuere Kunst geschaffen hat. [18]
Die linke ebenso wie die rechte dieser Schicksalsgöttinnen wurden in ihrer frontalen Stellung von der mittleren der Gorgonen des Beethovenfrieses (Kat. Nr. 800/01) abgeleitet, in den Skizzen (Kat. Nr. 884–93, 897/98) mit geneigtem Kopf neu studiert und in die Übertragungsskizze übernommen, während die Zeichnungen (Kat. Nr. 903–05) zur Vorbereitung der rechten der Erinnyen beitrugen. Nachdem Klimt auch die mittlere der Erinnyen zunächst stehend gezeichnet hatte (Kat. Nr. 899–900), verarbeitete er in der für die Ausführung gewählten Version ein aus Michelangelos »Jüngstem Gericht« stammendes Motiv, den zusammengekauerten Verdammten, der mit der Hand das eine Auge verdeckt, ganz selbständig [19] und schloss im Gesichtsausdruck an Toorop an. [20] Die Bein- und Armstudien (Kat. Nr. 901/02) entstanden im Zusammenhang mit der zuletzt genannten Figur. Der Zeichenstil dieser Blätter unterscheidet sich wesentlich von jenem des Beethovenfrieses durch spannungslosere Umrisslinien, durch das Fehlen von Akzentsetzungen, an deren Stelle gleichmäßig dünne, noch mit Kreide gezogene Linien getreten sind. Gegenüber den Gorgonen erscheinen die Erinnyen in ihren Bewegungen in der Ausführung noch eckiger und überlängter, was zum überwiegenden Maße auf die Überdeckung mit dunklen Schleiern zurückzuführen ist, die dem Gemälde die Bezeichnung »Tooropsymphonie« oder »Tooropiade« [21] eingetragen haben. Übersehen wurde dabei, wie souverän und eigenständig Klimt die Komposition mit Hilfe von Schleiern gestaltete, denen gleichzeitig auch eine wichtige inhaltliche Funktion zukam.
Der bis auf den Verbrecher ein außerweltliches Prinzip verkörpernden monumentalen Gruppe des Vordergrundes entsprach eine in die Ferne gerückte Dreiheit, die einen Hinweis auf Klimts Denken zu geben vermag. Dieser ergab sich sowohl aus den Größenverhältnissen als auch aus der Figurenauffassung. Hier offenbarte sich Klimts pessimistische Einstellung menschlicher Rechtssprechung gegenüber, was sowohl von neuesten Forschungen [22] als auch von Zeitgenossen Klimts nicht unbeachtet blieb. Franz Servaes schrieb darüber in seiner Besprechung der »Jurisprudenz«: »Gering und ärmlich, wenn auch pomphaft geputzt und gebrüstet, erscheinen dawider, in der Höhe des Bildes, die puppenhaft kleinen Figuren, die die menschlich-irdische Gerechtigkeit und Rechtsgelehrsamkeit personifizieren: die Justitia mit der Gesetzgebung und der Polizeigewalt, darunter ein Kranz kalter, richterlicher Greisenköpfe.« [23] In einem ähnlichen Sinn äußerte sich auch der Gelehrte Josef Redlich am 19.11.1903 in einem an Hermann Bahr gerichteten Schreiben, in dem davon die Rede ist »daß hier zu Lande Recht und Jurisprudenz nur sehr wenig miteinander zu tun haben.« [24] Verfolgt man die Darstellungen der oberen Zone mit Hilfe der Studien genauer, so offenbart sich diese Einstellung noch präziser. Bereits in den Entwürfen zeigten sich in den Mienen der Richter (besonders in den Kat. Nrn. 909–11) Unerbittlichkeit und Überlegenheit. Hevesi sprach von einem »Justizstil der Physiognomie« (Kat. Nr. 911). [25] Am aufschlussreichsten sind wohl die Studien für die Wiedergabe der Wahrheit, der Klimt in diesen Jahren ganz besondere Bedeutung beimaß. In der »Jurisprudenz« verkörperte er sie in der linken Gestalt der Dreiergruppe an oberster Stelle. Im Vergleich mit der Buchillustration »Nuda Veritas« von 1898 (Kat. Nr. 350) und der ein Jahr später gemalten Fassung (Novotny- Dobai Nr. 102) fällt in den Studien (Kat. Nr. 912–27) unter Beibehaltung desselben Körperideals in erster Linie das geänderte Standmotiv auf. Während bei den vorangehenden Aktdarstellungen beide Füße fest mit dem Boden verankert waren, wurde für die Wiedergabe der »Veritas« der »Jurisprudenz« ein labileres Stehen durch die Differenzierung von Stand- und Spielbein erzielt, was bei Klimt sicher auch mit einem Bedeutungswandel verbunden war, der sich ebenso im geneigten Kopf wie in der geänderten Armhaltung ausdrückte. Während einige Studien den ursprünglichen Gestus der »Nuda Veritas« beibehielten (Kat. Nr. 913/14, 921–23, 926/27), ging Klimt in den übrigen zu den verschiedensten Armstellungen über, welche der Gestalt etwas Tänzerisches verliehen, um schließlich ein Haltungsmotiv, ähnlich dem in Kat. Nr. 918, in die Ausführung zu übernehmen. Bei der Darstellung der langen herabfallenden Haare ging er in der gemalten Version von der Studie Kat. Nr. 924 aus. In dieser Endphase gab Klimt auch nicht die »Nackte Wahrheit« wieder, sondern er warf der »Veritas« einen Mantel über, womit er wohl seine Zweifel an der Findung der Wahrheit ausdrücken wollte. Der Zeichenstil der Blätter (Kat. Nr. 920–925) entspricht weitgehend den um 1901 entstandenen Entwürfen für den Beethovenfries, während die Studien (Kat. Nr. 912–919), die eine geringere Stilisierung aufweisen, noch einen stärkeren Zusammenhang mit dem 1899 geschaffenen Ölbild »Nuda Veritas« zeigen. Das am frühesten entstandene Blatt (Kat. Nr. 912) dürfte, da es sich auf der Vorderseite einer 1900 gezeichneten Studie befindet, um diese Zeit einzuordnen sein.
Mit Toga tragenden Gestalten bereitete Klimt sowohl die »Justitia« als auch die »Lex« vor (Kat. Nr. 928–33, 936–41). Er könnte hierzu durch die Patriarchengestalten in Sant Apollinare Nuovo in Ravenna angeregt worden sein. Der Ausführung der »Gesetzgebung« kam die Studie Kat. Nr. 937 am ehesten in die Nähe, jedoch dürften sich hier Zwischenstufen nicht erhalten haben.
Obwohl die meisten Studien von Toga tragenden Frauen auf die »Justitia« Bezug nahmen, gab Klimt diese Vorstellung zugunsten einer Figur mit säulenartigem Charakter auf, deren Gewand er mit geometrischen Motiven, vorwiegend Dreiecken und Rhomben schmückte. Hier scheinen Gestaltungsprinzipien, wie sie Klimt beim Stocletfries später anwendete, vorweggenommen. Im Vergleich mit diesem fällt jedoch die besondere Starrheit der »Justitia« in die Augen. Sie entspricht weitgehend dem geometrischen Formen-Ideal, als dessen hervorragender Neuschöpfer Klimt im Rahmen eines allen Nationen gemeinsamen Impulses angesehen wurde. [26]
Die Vollendung der »Jurisprudenz« und deren Ausstellung zusammen mit den bereits 1900 und 1901 fertiggestellten Fakultätsbildern »Philosophie« und »Medizin« auf der Klimt-Kollektive 1903 veranlasste die Kunstkommission des Ministeriums knapp vor der Eröffnung der Ausstellung auch die »Theologie« von Franz Matsch in die Secession bringen zu lassen. Während der am 11. November 1903 stattgefundenen Besichtigung und daran anschließenden Sitzung wurden zwei Fragen beraten: erstens, ob die Bilder zu akzeptieren seien und zweitens, ob die Kommission vom künstlerischen Standpunkt aus empfehlen könne, die so stark divergierenden Werke von Klimt und Matsch im gleichen Raum zur Aufstellung gelangen zu lassen. [27] Über den ungeheuren Qualitätsunterschied der Werke herrschte zugunsten von Klimt Einigkeit. Nur darüber waren die Meinungen geteilt, ob die Gemälde an der Decke der Aula der Universität ihren Platz finden sollten. Erstmals tauchte die Idee auf, Klimts Fakultätsbilder in der Modernen Galerie auszustellen. Nachdem die artistische Kommission der Universität sowohl eine nochmalige Überprüfung der Angelegenheit in einem der Ateliers der beiden Künstler als auch eine probeweise Anbringung der Fakultätsbilder an der Decke des Festsaales der Universität wegen zu hoher Kosten abgelehnt hatte, erklärte Klimt in einem Schreiben an das Ministerium vom 3. April 1905, die als noch nicht vollendet bezeichneten Fakultätsbilder zurückkaufen zu wollen. Die hierfür erforderlichen Mittel wurden ihm von dem Großindustriellen August Lederer zur Verfügung gestellt, in dessen Besitz die »Philosophie« überging. Erst 1910 und 1912 kaufte Kolo Moser, der mit Edith Mautner-Markhof verheiratet war, die Gemälde »Medizin« und »Jurisprudenz« direkt von Klimt. Nach Mosers Tod erwarb August Lederer die »Jurisprudenz«, während die »Medizin« an die Österreichische Galerie gelangte. Nach dem zwangsweisen Verkauf von »Philosophie« und »Jurisprudenz« 1944 an die Österreichische Galerie wurden alle drei Fakultätsbilder im Mai 1945 an ihrem Bergungsort im Schloss Immendorf in Niederösterreich zerstört.
[1] Strobl 1964, S. 142
[2] Fackel Nr. 36, Ende März 1900, S. 18
[3] Wr. Allg. Ztg. 22.3.1901
[4] Jugend, Nr. 32, 25.7.1900
[5] Neues Wr. Tagblatt 3.7.1907
[6] Hevesi 1906, S. 445, 447
[7] Abbildung Nebehay 1969, S. 323
[8] N. Fr. Presse 29.11.1903
[9] Dr. H. Ubell, in: Die Gegenwart Nr. 52, S. 409
[10] Hevesi 1906, S. 444
[11] Nebehay 1969, S. 331
[12] Hevesi 1906, S. 445
[13] Die Fackel, Nr. 147, 21.11.1903, S. 10
[14] Hevesi 1906, S. 445
[15] N. Fr. Presse, 29.11.1903
[16] Dr. Max Glaß, Neue Zürcher Zeitung 29.11.1903, Beilage zu Nr. 331
[17] Voss 139/284
[18] N. Fr. Presse 23.11.1903
[19] Dr. H. Ubell, in: Die Gegenwart Nr. 52, S. 409
[20] Bisanz-Prakken 1978, S. 199 ff., Abb. 80, 81
[21] Deutsches Volksblatt 15.11.1903; Wiener Ztg. Abendblatt 17.11.1903
[22] Bisanz-Prakken 1977, S. 47
[23] Hamburgischer Correspondent, 1.12.1903; N. Fr. Presse, 23.11.1903 (ähnl. Text)
[24] Dichter und Gelehrter, Hermann Bahr und Josef Redlich in ihren Briefen. Quellen zur Geschichte des 19. u 20. Jahrhunderts, Bd. 2, Salzburg 1980, S. 309
[25] Hevesi 1906, S. 445
[26] B. Zuckerkandl, in: Wr. Allg. Ztg. 14.11.1903
[27] Siehe für diese und die folgenden Angaben Strobl 1964, S. 155 ff.