Gustav Klimt Zeichnungen
- Vorwort
- Einleitung
- Biografie
- Werke (0)
-
Essays
-
Alice Strobl Werkgruppentexte
- Akt- und Bildnisstudien
- Allegorien und Embleme
- Aquarelle
- Deckenbilder für die Theater Fiume Karlsbad Hermesvilla
- Gemälde im Stiegenhaus des Wiener Burgtheaters
- Zuschauerraum im Alten Burgtheater
- Huldigungsadressen an Karl von Hasenauer und Erzherzog Rainer
- Die Zwickel- und Interkolumnienbilder des Kunsthistorischen Museums und Studien
- Bildnis des Hofschauspielers Josef Lewinsky als Carlos in Clavigo und »Allegorien Neue Folge«
- Musiksalon des Palais Dumba
- Klimts Entwürfe für das Secessionsgebäude – Allegorien Neue Folge und Ver Sacrum
- Illustrationen und Bildniszeichnungen
- Bildnis Sonja Knips
- Thalia und Melpomene Ende
- Bildnis Serena Lederer
- Fakultätsbild Philosophie
- Bildnis R.R.
- Fakultätsbild Medizin
- »Fischblut«, »Bewegtes Wasser«, »Irrlichter«, »Daphne«
- »Judith« und Illustrationsentwürfe für Ver Sacrum
- Bildnis Marie Henneberg
- Beethovenfries, »Goldfische«
- Fakultätsbild Jurisprudenz
- »Hoffnung I«
- »Danae«
- Bildnis Hermine Gallia
- Bildnis Adele Bloch-Bauer
- Studien
-
Alice Strobl Werkgruppentexte
- Bibliografie
- Ausstellungen
- Impressum
Fakultätsbild Medizin
Fakultätsbild Medizin 1901–1907 (Band I)
Alice Strobl
Viel mehr Stadien im Fortschreiten der Arbeit als beim Fakultätsbild »Philosophie« lassen sich bei der »Medizin« unterscheiden. Die Entwürfe reichen von den ersten Ideenskizzen um 1894 über den gemalten Kompositionsentwurf, die Übertragungsskizze, den Zwischenzustand knapp vor der Präsentation des Werkes in der 10. Secessions-Ausstellung, den 1. und 2. Zustand bis zur Endlösung von 1907. Diese oftmaligen Änderungen bzw. Hinzufügung neuer Figuren hatten eine dementsprechend größere Anzahl von Studien zur Folge, deren Zuordnung zu den verschiedenen Entwicklungsphasen hier zum ersten Mal versucht wurde. Das ungeheure Anwachsen der Studien für die »Medizin« – von Hunderten ist die Rede [1] , von denen mehr als 160 wieder ausfindig gemacht werden konnten – dürfte nicht allein auf die genannten Gründe zurückzuführen sein, sondern seine Ursache auch in einem immer genaueren Studium einzelner Figuren haben.
Mit den von Franz Matsch und Gustav Klimt 1894 gemeinsam vorgelegten und bereits erwähnten beiden Skizzen für die Fakultätsbilder dürften sich zwei unpublizierte und unbeachtet gebliebene Studien (Kat. Nr. 512/13) verbinden, welche die Hygieia, die Göttin der Heilkunst, auf Wolken thronend zeigen. In starker Untersicht wiedergegeben, entsprechen sie ganz ausgezeichnet dem von Franz Matsch geschaffenen und gleichzeitig eingereichten Entwurf für das Mittelbild »Sieg des Lichts über die Finsternis« [2] , dessen Komposition viel stärker als die Ausführung im Sinne des Historismus auf die barocke Deckenmalerei zurückgriff, während sich die einzelnen Figuren von den barocken Vorbildern entfernten. Dies gilt auch für Klimts Hygieia-Studien, die mit einigen wenigen Strichen in geometrisch abgekürzter Form konzipiert sind, durch Schrägschraffen Licht und Schatten andeuten und in der skizzenhaften Zeichenweise die Entwürfe für das Burgtheaterinterieur (Kat. Nr. 192–292) fortsetzen. Das laut Studie (Kat. Nr. 512) von rechts oben einfallende Licht lässt als dessen Spender das Mittelbild vermuten. Die Annahme, es handle sich bei den beiden Blättern um die frühesten mit dem Fakultätsbild »Medizin« in Zusammenhang stehenden Studien, wird durch die Darstellung der Vorderseite eines der beiden Blätter (Kat. Nr. 512) unterstützt, die einen der ersten für den Musiksalon des Palais Dumba geschaffenen Entwürfe zeigt und auch vom Zeichenstil her eine ungefähr gleichzeitige Entstehung mit den beiden Hygieia-Skizzen 1893/94 bestätigt. Wie bereits erwähnt, erging der Auftrag an Klimt, die Ausschmückung des Musiksalons im Palais Dumba zu übernehmen, bereits 1893.
Der gemalte Kompositionsentwurf 1898
Obwohl der erste für die Anordnung der Zwickel- und Deckenbilder maßgebende Programmentwurf von 1896 die traditionelle Anbringung des Fakultätsbildes »Theologie« neben jenem der »Philosophie « vorsah [3] , dürfte Klimt bereits zur Zeit der Arbeit am gemalten Kompositionsentwurf für die »Philosophie«, eine Anbringung von »Medizin« und »Philosophie« nebeneinander geplant haben, was aus dem Abstimmen der beiden Kompositionen aufeinander deutlich hervorgeht. Die Studien für die Hygieia (Kat. Nr. 515/16) verbinden sich bereits mit dem neuen, mehrfigurigen Entwurf. Sie folgen einem antiken Typus, der die Göttin der Gesundheit mit der Schale in der Rechten und der Schlange des Asklepios in der Linken zeigt. [4] Schließlich mag ein Wiener Vorbild, die Bleistatue des Hygieia-Brunnen von J.M. Fischer vor dem Gerichtsmedizinischen Institut in der Währingerstraße von 1787, die ihrerseits wieder eine antike Plastik variiert, die Haltung der Arme in der Studie (Kat. Nr. 517) bestimmt haben. In dieser Form fand die Hygieia sowohl für den gemalten Kompositionsentwurf als auch für alle weiteren Zustände Anwendung. Im Zeichenstil und in der Form verbindet sich diese Studie mit der 1897 entstandenen »Allegorie der Tragödie«, insbesondere mit deren unmittelbarer Vorzeichnung (Kat. Nr. 337), ist jedoch souveräner in der Gesamtauffassung.
Von großer Bedeutung für Klimts neues Konzept war die Figur einer im Freiraum schwebenden nackten Gestalt, der er die meisten Studien widmete. Das in der Kunst des Symbolismus häufig verwendete Motiv des Schwebens, oft auch an bekleideten Figuren angewendet, könnte in den Studien (Kat. Nr. 520–22) von einer mit erhobenen Armen schwebenden Figur Albert Besnards an der Decke des Salons des Sciences im Pariser Rathaus angeregt sein, zumal die Gesamtkomposition dieses Plafondbildes für Klimts Fakultätsbild »Philosophie« richtunggebend war. Klimt variierte jedoch das Vorbild, indem er die erhobenen Arme etwas einbeugte und sie als Akt darstellte, jedoch in den Studien (Kat. Nr. 520, 523–25) im Hintergrund der Gestalten einen Hinweis auf eine Draperie gab. Die Skizze auf der linken Seite der Kat. Nr.525 deutet darauf hin, dass Klimt die Studien mit Ausnahme der Kat. Nrn. 526–28 und 530, die nach einem stehenden Akt entworfen zu sein scheinen, nach dem liegenden Modell gezeichnet hat. Jedoch dürfte er im Laufe seiner Arbeit, unabhängig von einem Modell, zu Stilisierungsformen mit harmonisch schwingenden Umrissen gelangt sein, wie sie die Zeichnungen Kat. Nr. 534 und Kat. Nr. 621 als vollendetste Lösungen zeigen. Auch bei Klimt findet sich eine bekleidete Schwebende (Kat. Nr. 519), bei der es ihm in erster Linie darum ging, das über die Schulter fallende Haar genau zu studieren. Sowohl die sich nach links fortbewegenden (Kat. Nr. 535–38) als auch die in Vorderansicht wiedergegebenen Akte (Kat. Nr. 528/9) verdeutlichen noch nicht die Bindung an eine zweite Gestalt, wie dies durch eine Richtungsänderung der rechten Hand in Kat. Nr.530/31, 533/34 angedeutet ist. Dasselbe gilt auch von den beiden Männerakten (Kat. Nr.539/40), die sich mit den frühesten Studien für die Schwebende, um 1896, etwa mit Kat. Nr. 521, stilistisch verbinden lassen.
Auffallend bei manchen dieser Studien sind die starken Licht- und Schattenkontraste, durch welche die Körper plastisch hervortreten (Kat. Nr. 533/34, 556/57). Gleichzeitig hebt sie eine starke Akzentuierung der Umrisse vom Hintergrund ab, den Klimt bis auf die Aktdarstellung (Kat. Nr. 530) nicht näher charakterisierte. In dem genannten Blatt deutete er ihn mit Schraffenlagen an, wie er es auch bei Bildniszeichnungen des gleichen Zeitraumes (1896–98) häufig tat (vgl. besonders Kat. Nr. 387–393).
Als unmittelbare Vorstudien für den Mann, der die Schwebende an der Hand hält, sind die Blätter (Kat. Nr. 547/48) anzusehen, während sich die Zeichnungen (Kat. Nr. 541–43), mit denen auch die Studien (Kat. Nr. 550–553) in Verbindung stehen könnten, als Vorbereitung des vom rechten Rand in die Komposition hereinragenden Männeraktes erwiesen. Schließlich sei auf die Kopfstudie eines greisen Mannes (Kat. Nr. 549) aufmerksam gemacht, der im gemalten Kompositionsentwurf in der oberen rechten Ecke über dem »Tod«, für den ebenso wie für die »Krankheit« keine Studien ausgeforscht werden konnten, erkennbar ist.
Dieser 1898 vorgelegte Kompositionsentwurf begegnete bei den Kunstkommissionen des Unterrichtsministeriums und der Universität den meisten Einwänden. Es machte sich der Wunsch »nach einer decenteren, weniger zu Widerspruch und obscönen Scherzen neigenden Haltung der die >leidende Menschheit< charakterisierenden weiblichen Figur in der Mitte, eventuell nach Ersetzung dieser Figur durch eine Jünglingsgestalt geltend«. [5]
Die Übertragungsskizze 1899/1900
Klimt konnte diesem Wunsche nicht entsprechen. Handelte es sich doch bei der »Schwebenden« nicht um die »leidende Menschheit«, wie die Kommissionsmitglieder annahmen, sondern um ein die fortwährende Erneuerung des Menschengeschlechts wiedergebendes Sinnbild [6] , in das sowohl der die »Schwebende« an der Hand haltende Mann als auch in späteren Zuständen ein unter ihr dargestelltes neugeborenes Kind, einbezogen waren. In der Übertragungsskizze verschob Klimt die »Schwebende« etwas mehr gegen den linken Rand und vermehrte die übrigen Figuren auf das Doppelte, indem er Menschen aller Altersstufen in die Komposition aufnahm.
Eine Bestätigung der mit 1899/1900 angenommenen Entstehungszeit der Übertragungsskizze kann ein Blatt geben, das auf der einen Seite eine Studie für die Übertragungsskizze der »Medizin« (Kat. Nr. 575) und auf der anderen Entwürfe für den im März 1900 fertiggestellten ersten Zustand der »Philosophie« (Kat. Nr. 482) enthält. Diesem Datum entsprechen auch Unterschiede in der Zeichenweise zu der 1898/99 ausgeführten Übertragungsskizze für die »Philosophie«. An den Figuren fällt auf, dass die Binnenzeichnung in Form von Schraffenlagen eine geringere Rolle spielt und darauf beschränkt bleibt, die Anatomie der Körper zu verdeutlichen. Auch die Rolle des Lichts ist eine andere, es akzentuiert nicht mehr einzelne Darstellungen, wie etwa die Familie im linken oberen Teil der Übertragungsskizze für die »Philosophie« (Kat. Nr. 477), sondern verteilt sich über das ganze Blatt und ist eher flimmernd geworden, was auch der gleichzeitigen neoimpressionistischen Malweise bei Klimt entspricht.
Klimt studierte einige der hervorragenden Gestalten des gemalten Kompositionsentwurfes, wie die Hygieia (Kat. Nr. 558–60) und den Mann, der die »Schwebende« an der Hand hält (Kat. Nr. 561), neu; ihr selbst scheint er weitere nicht erhaltene Entwürfe gewidmet zu haben, deren Endprodukt in einer auf den Umriss allein beschränkten Zeichnung (Kat. Nr. 562) vorliegt, die für die Übertragung in den gezeichneten Kompositionsentwurf bestimmt war (Kat. Nr. 605) und dort kaum sichtbar wiedergegeben ist. Auf der Zeichnung mit der »Schwebenden« (Kat. Nr. 562) finden sich außerdem für die Übertragung bestimmte Skizzen von Ringern, denen die Studien (Kat. Nr. 590, 594–99) vorangegangen sind. Mit dieser Darstellung dachte Klimt wohl an ein Sinnbild für den Lebenskampf, für dessen Darstellung Canon in seinem »Kreislauf des Lebens« im Naturhistorischen Museum ein kämpfendes Reiterpaar gewählt hatte. Möglicherweise regten derartige, für die Übertragung bestimmte Studien Klimt an, seinen Zeichenstil immer mehr auf den Umriss allein zu reduzieren. Die Studien für die Übertragungsskizze unterscheiden sich aber noch nicht sehr wesentlich von denen für den gemalten Kompositionsentwurf. Als Unterschied ließe sich anführen, dass die Linien dadurch mehr Eigenbedeutung erhielten, dass sie lockerer nebeneinandergesetzt wurden (Kat. Nr. 558–604), obwohl sich auch darunter noch Beispiele mit stärkeren Licht-Schatten-Kontrasten befinden (Kat. Nr. 573, 578, 587/88). Eine von der »Schwebenden« abgeleitete, mit roter Kreide ausgeführte Darstellung (Kat. Nr. 564), die mit einer im gemalten Kompositionsentwurf über dem Kopf des männlichen Rückenaktes wiedergegebenen Figur in Zusammenhang steht, zeigt im Haar mit blauer Kreide spontan gesetzte Akzente, die an das Alternieren von roter und blauer Farbe in einer Studie für »Melpomene « (Kat. Nr. 430) oder an die Gewandbehandlung des Bildnisses Serena Lederer erinnern. Allein in blauem Farbstift ist dagegen Kat. Nr. 567 ausgeführt, die man mit einer undeutlichen Darstellung in der rechten oberen Ecke der Übertragungsskizze verbinden könnte. Die stehenden Akte in Kat. Nr. 568/69 nahmen ebenfalls ihren Ausgang von einem bereits im gemalten Kompositionsentwurf, nahe dem oberen Bildrand wiedergegebenen weiblichen Akt. Völlig neu studiert sind dagegen die Skizzen einer nackten dicken Frau ohne und mit Kind (Kat. Nr. 570–74, 578–81), die eine in der Übertragungsskizze vom oberen Rand überschnittene Darstellung einer Amme mit Kind vorbereiten. Das Kind auf der rechten Seite von Kat. Nr. 575 fand seitenverkehrt über der Hygieia in der Übertragungsskizze Aufnahme, während der kaum sichtbare Entwurf eines sitzenden Frauenaktes in der Mitte des Blattes eine Vorstellung von den ersten Studien für die rechts oberhalb der Hygieia dargestellte Allegorie des »Schmerzes« vermittelt. Die Studien (Kat. Nr. 576/77) könnten für das Kind oberhalb der Schulter des männlichen Rückenaktes, die beiden frontalen Männerakte als Vorbereitung des Sinnbildes für die »Krankheit« verwendet worden sein, deren Gewand in Kat. Nr. 584 genau studiert und in vereinfachter Form in die Übertragungsskizze übernommen wurde. Klimt wählte für den 1. Zustand ein ähnliches Muster des Gewandes und dieselbe Handhaltung, der er in Kat. Nr. 656 eine eigene Skizze widmete. Auch die neu entworfene Gestalt des »Todes«, nun mit nach rechts gewendetem Kopf (Kat. Nr. 585), übernahm Klimt in die Übertragungsskizze, während er sie in der Ausführung wiederum seitenverkehrt verwendete.
Von den Studien für die »Philosophie« benützte Klimt jene, die einen nach rechts schwebenden, verzweifelten Greis mit vorgehaltenen Händen zum Gegenstand haben (Kat. Nr. 474, 586–89, 591). Von diesen ist Kat. Nr. 586 durch die in »Bewegtes Wasser« verwendete Armstudie für die »Schwebende« und die Skizze des Beckens eines Frauenaktes, der sich im 1. Zustand der »Medizin« findet, unmittelbar mit diesem Fakultätsbild verbunden, ebenso wie Kat. Nr. 589, deren Männerakt in der rechten unteren Ecke auch erst im 1. Zustand der »Medizin« Aufnahme fand. Der Darstellung in der Übertragungsskizze am nächsten kommt die seitenverkehrte Studie Kat. Nr. 592. Einen sehr dominierenden Platz räumte Klimt in der Übertragungsskizze und in der Ausführung einem sitzenden männlichen Rückenakt und einem vom rechten Rand weitgehend überschnittenen Frauenakt in ähnlicher Stellung ein, denen er die Studien (Kat. Nr. 569, 600–04) widmete. Möglicherweise dachte er bei dieser Darstellung an das erste Menschenpaar, das auch in Albert Besnards Plafondbild im Salon des Sciences zu finden ist und eine ikonographische Tradition der Deckenmalerei vergangener Jahrhunderte fortsetzte, von Klimt jedoch dadurch stärker ins Allgemeine gerückt wurde, dass er Mann und Frau in Rückenansicht wiedergab.
Diesem Stadium der Arbeit zuzuordnen ist auch eine kleine Skizze (Kat. Nr. 593) auf der Rückseite von Kat. Nr. 602, die sich mit der Anbringung der beiden Fakultätsbilder »Medizin« und »Philosophie« an der Decke des Festsaales der Universität, unter Berücksichtigung des von der Ferstel'schen Architektur vorgegebenen ornamentalen Feldes, einer Kartusche mit Kaiserkrone und Monogramm Franz Joseph I., in der Skizze Klimts nicht näher angedeutet, auseinandersetzte. Die stenographische Abkürzung der »Schwebenden« im linken sowie des alten Mannes im rechten Feld lassen Klimts Vorhaben, »Medizin« und »Philosophie« in dieser Weise anbringen zu lassen, deutlich erkennen. Gleichzeitig weisen die geschwungenen Begrenzungslinien der Figurenkompositionen in beiden Fakultätsbildern darauf hin, dass sie, ungeachtet des sie überschneidenden Ornamentfeldes, als Ausschnitt aus einem unendlichen Menschenstrom gedacht waren. Tatsächlich erweckten in der Klimt-Kollektive 1903, in der »Philosophie« und »Medizin« in der Art der Skizze angebracht waren, über das dazwischenliegende Spatium hinweg, den Eindruck eines einheitlichen großen Stromes. [7] Darüber hinaus beweist der Vergleich der Rekonstruktion der geplanten Anordnung [8] das gute Einfügen dieser beiden Fakultätsbilder in den ornamentalen Rahmen.
Der erste, zweite und dritte Zustand
Das Aufeinanderabstimmen der Kompositionen von »Medizin« und »Philosophie« dürfte einer der Gründe gewesen sein, die Klimt veranlassten, zwischen der Übertragungsskizze und dem ersten Zustand der Ausführung die Figurenanzahl noch weiter zu steigern, was nur durch zahlreiche gegenseitige Überdeckungen der einzelnen Akte möglich war. Dies traf vor allem auf die Darstellung eines nach links stehenden nackten Mädchens zu, dessen Studien ebenso wie jene für die »Schwebende« (Kat. Nr. 621) mit ihren Umrissbetonungen und transparenten Schratten zu den weitgehendst stilisierten Zeichnungen dieser Gruppe zählen. Die Studie (Kat. Nr. 610) fand wohl Aufnahme unterhalb der Allegorie des »Schmerzes«, büßte aber, von dieser überschnitten, etwas von ihrer Schönheit ein. Die Wiedergabe der linken Schulter übernahm Klimt von Kat. Nr. 609, stellte aber den Kopf ähnlich Kat. Nr. 617 und 643 dar. Erstgenanntes Blatt zeigt außerdem eine Mutter mit Kind, das in den Studien (Kat. Nr. 625–27, 648) studiert, über dem Kopf der Hygieia seine endgültige Form fand. Auch die Gruppe über dem männlichen Rückenakt veränderte Klimt weitgehend, indem er durch einen gebeugten, in der Zeichnung (Kat. Nr. 589) rechts unten skizzierten Männerakt und weitere Figuren, zu denen auch der in Kat. Nr. 628 angedeutete weibliche Rückenakt gehört, die Komposition gegen die »Schwebende« hin ausbuchtete, was möglicherweise in Entsprechung der Begrenzung des Menschenstromes rechts unten in der »Philosophie« erfolgte. Diese Ergänzung der Komposition fand sich auch noch im zweiten Zustand der »Medizin«, wurde jedoch im Endzustand, als man den Plan fallen gelassen hatte, die beiden Fakultätsbilder nebeneinander anzubringen, beseitigt. Erhalten blieben dagegen in allen drei Zuständen das ebenfalls in Kat. Nr. 628 skizzierte Greisenhaupt und der mit waagrechtgehaltenem Unterarm in Kat. Nr. 614 angedeutete frontale Frauenakt. Von dem in Kat. Nr. 630 studierten nackten Mädchen war über der letztgenannten Figur nur der nach links gewendete Kopf im unvollendeten ersten Zustand sichtbar. In der rechten oberen Ecke gelangte zum ersten Mal eine Schwangere zur Darstellung, die Klimt mit den Zeichnungen (Kat. Nr. 636/37) entwarf, sie jedoch ähnlich der Skizze in Kat. Nr. 664 seitenverkehrt in die Ausführung übertrug.
Neben ihr der geneigte Kopf eines jungen Mädchens, über dessen beschattetes Gesicht Klimt in der Vorzeichnung (Kat. Nr. 632) Schrägschraffen legte. Unter den vielfältigen Stellungen für die »Medizin « scheint Klimt auch an die Wiedergabe eines liegenden Aktes gedacht zu haben. Um einen derartigen Versuch dürfte es sich bei den Studien (Kat. Nr. 656–663) handeln, die meist von Krankheit gezeichnete Kreaturen zum Gegenstand haben. Er entschied sich dann aber doch, ein mit angezogenem rechten Schenkel liegendes blühendes Geschöpf wiederzugeben, dessen Kopf durch das Gewand der »Krankheit« verdeckt wurde. Diese im zweiten Zustand bereits wieder veränderte Darstellung fand ihre Vorbereitung durch die Studien (Kat. Nr. 641–43, 586).
Das zeitlich zwischen Übertragungsskizze und erstem Zustand um 1900 fixierbare Skizzenblatt (Kat. Nr. 664) zeigt, abgesehen von zwei Selbstbildnissen und Notierungen von Damenporträts, ein Cranium in Vorderansicht, als weitere nicht verwendete Variation der Kopfhaltung des »Todes«, das Haupt der Hygieia und der »Krankheit« sowie den nach links stehenden Mädchenakt ähnlich der Zeichnung (Kat. Nr. 608). Auch der verzweifelte alte Mann, wie er in den Studien (Kat. Nr. 586–589) zu finden ist, kehrt mit kurvilinearen Überkritzelungen zweimal wieder. Ebenso findet sich die Profildarstellung eines männlichen Kopfes, ähnlich jenem der Studie (Kat. Nr. 648), der im ersten Zustand das erste Mal auftaucht und bis zur Endfassung erhalten bleibt, während der in der rechten unteren Ecke stehende, mit den Studien (Kat. Nr. 650/51) vorbereitete Frauenakt, aus dem Endzustand wieder verschwunden ist. Aber auch der bereits in der Übertragungsskizze vorkommende, sitzende weibliche Rückenakt wurde auf diesem Skizzenblatt nochmals notiert.
Die wichtigste thematische Ergänzung des im 6. Heft von Ver Sacrum vom 15. März 1901 wiedergegebenen Zustandes – es handelte sich um das wegen der Publizierung der Studien für die »Medizin« von der Staatsanwaltschaft zur Beschlagnahme vorgeschlagene Heft – war die Darstellung des Kindes unter der »Schwebenden«; Klimt hatte sie sowohl in einem Doppelblatt (Kat. Nr. 622) als auch in den Kat. Nrn. 623/24 vorbereitet. Neu sind auch die mit den Skizzen (Kat. Nr. 644, 656) studierten Profilstellungen von Charakterköpfen am rechten Rand.
Schließlich sei noch auf einen neben der Hygieia stehenden Akt einer alten Frau im ersten Zustand hingewiesen, von dem fast nur die hängenden Brüste, ähnlich wie in der Studie Kat. Nr. 654, erkennbar sind. Erst in der Endfassung von 1907 ist diese Figur klarer fassbar. Die Studien für diese Gestalt, die immer nur als Vorzeichnungen für die alte Frau in »Die drei Lebensalter« angesehen wurden, entstanden laut der in Ver Sacrum publizierten Zeichnung (Kat. Nr. 668) spätestens 1903.
Ausschließlich mit dem zweiten Zustand des Gemäldes lassen sich nur drei Studien verbinden. Der Frauenkopf im Skizzenblatt (Kat. Nr. 665), der auf der linken Seite des Menschenstromes den in der Nähe der »Schwebenden« nach rechts gebeugten Mann etwas verdeckt sowie die beiden Studien des Männerrückenaktes (Kat. Nr. 666/67), der ein Kind auf seinen Knien hält.
Der erste Zustand der »Medizin« war anlässlich seiner Präsentation auf der 10. Secessionsausstellung 1901 ähnlichen Protesten ausgesetzt wie die »Philosophie«. Sogar eine vehemente Interpellation wurde im Parlament von mehr als zwanzig Abgeordneten wegen des Bildes eingebracht. [9] Klimt, in einem Interview danach befragt, was er über die Interpellation denke, antwortete, dass er sich nicht darum kümmere, sich nur wünsche, in Ruhe gelassen zu werden, um sich mit einer Reihe von Plänen, die ihn beschäftigten, auseinandersetzen zu können. Die Meinung von Leuten, die nichts davon verstünden, kümmere ihn wenig, er unterwerfe sich nur dem Urteil von Künstlern, und zwar unbedingt. Weiters bemerkte er, dass er das, was in den Zeitungen stehe, nicht einmal gelesen habe. [10]
Abgesehen von dem Vorwurf der schwierigen Deutbarkeit des Klimt'schen Gemäldes und der künstlerischen Bewältigung des Themas, die in den Pressekritiken immer wieder zu lesen war [11] , wandte man sich wiederum gegen Klimts pessimistische Einstellung. Es wurde ihm der Vorwurf gemacht, dass er nicht die gerade in den letzten Jahren gemachten großen Errungenschaften auf dem Gebiet der Medizin aufgezeigt oder ihre wichtigsten Funktionen, Heilen und Prophylaxe, versinnbildlicht, sondern einen »Triumph des Todes« wiedergegeben habe. [12] Wenn man in Betracht zieht, dass Klimt den Tod selbst vor dem Neugeborenen nicht haltmachen ließ, sondern es in sein blaues Schleiergewand hüllte [13] , so war eine derartig pessimistische Deutung von Klimts Bestrebungen nicht allzu weit entfernt, in dessen späterem Werk, sowohl in »Hoffnung I« und »Hoffnung II« als auch in »Tod und Leben«, der Bedrohung jungen Lebens durch den Tod große Bedeutung zukam.
[1] Tietze 1926, S. 86
[2] Wahrscheinlich identisch mit der Ölskizze auf Papier, Albertina Inv. Nr. 36301; Giese 1977, Nr. 135, 1894?
[3] Strobl 1964, S. 141
[4] Salomon Reinach, Repertoire de la Statuaire grecque et romaine, Tom. II, vol. I, Paris 1924, S. 298 (Ostia) und Tom. IV. Campana, Chateau-Goutier, Paris 1910, S. 177
[5] Strobl 1964, S. 142
[6] N. Fr. Presse 19.3.1901, S. 2 u. 24.3.1901, S. 2
[7] F. Servaes, Gustav Klimts Monumentalmalereien, Ausstellung der Wiener Secession, in: Hamburgischer Correspondent 1.12.1903, S. 2
[8] Strobl 1964, S. 158 ff.
[9] Strobl 1964, S. 154
[10] Bei Gustav Klimt, Ein Interview, 21.3.1901, in: Wr. Allg. Ztg. 22.3.1901
[11] Bahr 1903, S. 39–59
[12] N. Fr. Presse 24.3.1901, Feuilleton, »Die Medizin«, S. 3; Bahr 1903, S. 52, 59
[13] Hevesi 1906, S. 317; N. Fr. Presse 24.3.1901